Die wohl bedeutendste und erfreulichste Entwicklung innerhalb der ungarndeutschen Literatur stellt das Auftreten von Peter Wess dar, der in seiner Person und seinem Werk sprachliche Sicherheit mit literarischem Einfallsreichtum verbindet.
Obwohl Peter Wess als „Neuentdeckung“ der ungarndeutschen Literatur gilt, kann er auf eine beachtliche literarische Produktion zurückblicken. Besonders seine beiden auf Ungarisch im Verlag Napkút erschienenen Bücher – A bal lator lemászik a keresztről (2019) und A bálnák tudják, de nem mondják meg, csak énekelnek (erschienen drei Jahre später) – sind zwar weder sprachlich noch thematisch der ungarndeutschen Literatur zuzuordnen, zeugen jedoch von der Fähigkeit, komplexe Figurenensembles zu konstruieren und diese im Rahmen einer vielschichtigen, dabei dennoch überschaubaren Handlung interagieren zu lassen. Während das erste Buch im gegenwärtigen Ungarn angesiedelt ist, hat Wess im zweiten Werk eine geheimnisvolle Fantasy-Welt erschaffen. Dieses Buch überzeugt durch Ironie und vielfältige Anspielungen auf (trivial)literarische Werke und Figuren – und bietet dem Leser eine gleichermaßen anspruchsvolle wie fesselnde Lektüre.
Diese Werke lassen hoffen, dass sich Peter Wess künftig auch in deutscher Sprache längeren Formen der erzählenden Prosa zuwenden wird – denn gerade diese fehlen in der ungarndeutschen Literatur nahezu vollständig. Bisher wurden vorwiegend kürzere Prosatexte verfasst (etwa die Erzählungen von Ludwig Fischer), oder längere Werke – wie zum Beispiel Georg Wittmanns Die Holzpuppe – zeichneten sich trotz ihres literarischen Werts durch eine sehr schlichte Struktur aus.
Wess’ bewusste Herangehensweise an literarische Gestaltung ist frei von jeglicher Larmoyanz oder Sentimentalität. Dies mag auch mit seiner Biografie zusammenhängen: Der 1983 in Fünfkirchen geborene Autor absolvierte nach dem Besuch der deutschsprachigen Mittelschule seiner Heimatstadt ein Jurastudium, und man weiß: Juristen, die sich literarisch betätigen, sind in der deutschsprachigen Literatur nicht selten – man denke etwa an Herbert Rosendorfer, Bernhard Schlink oder Ferdinand von Schirach. Auch bei Wess ist ein klarer, präziser Stil zu beobachten, der wohl nicht zuletzt seiner beruflichen Ausbildung zu verdanken ist.
Wess’ hauptberufliche Arbeit verknüpft ihn mit der deutschen Sprache, was ihm auch dabei hilft, die deutsche Alltagssprache zu beherrschen. Er lebt mit seiner Familie seit rund anderthalb Jahrzehnten in Kecskemét.
Zugleich – um den Bezug zur ungarndeutschen Literatur wieder aufzunehmen – zeigt er sich als äußerst sicher im Umgang mit dem lebendigen Deutsch der Gegenwart, das er in seinen deutschsprachigen Texten verwendet. Dies mag selbstverständlich erscheinen, ist es aber nicht: Viele ungarndeutsche Prosatexte litten bislang darunter, dass ihre Autorinnen und Autoren nicht in der Lage waren, den Figuren ein natürliches, lebendiges Deutsch in den Mund zu legen – stattdessen klang häufig ein künstliches „Lehrbuchdeutsch“ durch, das jeglicher Authentizität entbehrte. Dieses Problem besteht bei Wess nicht. Seine satirische Kurzgeschichte Der Letzte (in der es um den letzten Ungarndeutschen geht) und der Kurzgeschichtenzyklus Dreizehn Monate belegen dies eindrucksvoll.
Vor allem die bissig-intelligente Erzählung Der Letzte stellt innerhalb der ungarndeutschen Literatur eine völlig neue Qualität dar, einen neuen Ton. Man mag sie – durchaus zu Recht – in eine Reihe mit Werken von Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Frigyes Karinthy oder (in seinen besten Momenten) György Moldova stellen.
Und – als wäre all dies nicht schon beeindruckend genug – beschäftigt sich Peter Wess auch intensiv mit seinem Heimatort Feked und dessen Sprache. Die dortige Mundart zu bewahren, ist ihm ein Anliegen: Einerseits arbeitet er an der Zusammenstellung eines Mundartwörterbuchs, andererseits hat er diese Sprache bereits literarisch genutzt.
Gábor Kerekes